How many beginnings and endings does a street have?

Sie kleidet sich in den Schlammtönen der Nachkriegsbauten, in Backsteinbraun und ausgewaschenem Verputzrosa. Liedschatten mag sie, tiefblau mit hellroten Polyethylenwimpern darunter. Sie ist Mutter, Straßenbauarbeiter*in, Kioskverkäufer*in, Amazonlieferant*in und ein Hunderudel folgt ihr auf Schritt und Tritt. Sie transportiert ihre Kinder mit dem Bollerwagen zum Spielplatz und markiert dabei jeden Stromkasten, Laternenpfosten und jedes Baumspiegelbeet mit dem Duft nach Zugehörigkeit; ihre Straße ist das Revier der Vierpfötigen: Ratten, Katzen und Hunde beißen hier einander in die  Schwanzspitze.
Die Kinder heißen Murad, Irmgard, Kesha oder Bogdan und balancieren auf roten Seilen, die für jede*n von ihnen einmal eine eigene Bedeutung erhalten werden.
Sie trägt eine sorgfältig (manche würden sogar spießig sagen) gepflegte Frisur: prächtige Platanen  halten im Sommer die Stirn schattig, da, wo früher die Kühe weideten, so dass der Straßenpuderstaub nicht zerrinnt. Zierblumen umkränzen das Haupt, sie lenken ab von den vielen kleinen Tätowierungen, die ihren Körper übersähen. Impulsive Abziehbildchen verkünden ein politisches Ansichten von kurzer Gültigkeit. Doch Zeit verläuft nicht geradeaus, das weiß sie genau, sondern geschichtet wie der Teer unter ihren Absätzen. Geschichtet. Schichten. Geschichten.



GerMania is a project on and about my street ‘Germaniapromenade’ in Neukölln/Britz and with the people who live and work here. I get to know the dogs, rats and cats of the hood and collect their stories and conversations about belonging. In september a series of workshops and actions will rewrite the obsolete myth of Germania (and overwrite a street name?) - together with artists and neighbours we create an outdoor performance to take our collective belongings and myth re-makings into speculative drafts for a worthwhile urban coexistence.

project online publication: 
https://germaniapromenade.art/ 

Funded by: Draussenstadt/NeustartKultur
Kulturförderung Neukölln & Fonds Freie Darstellende Künste


10. Juli ca 14 Uhr

Wie viele Anfänge und Enden hat eine Wurst?

Ein Mann mit zotteligem Pferdeschwanz steht in Pinkelposition an einer der Linden, die den Gehweg vom Kanal her zu meiner Strasse säumen. Der Bürgersteig ist schmal, so dass ich ziemlich nah an ihm vorbei laufe. Von hinten sieht er aus wie ein zeitgenössischer Stadtpirat. Ein kräftiger Pisstrahl plätschert über die Knöterichblätter in die Baumscheibe.

Ich biege um die Ecke in die Germaniapromenade und sehe, dass Songül dabei ist, ihren Bäckerladen zu schliessen. Sie hat zwei durchsichtige Plastiktüten mit nichtverkauften Brötchen draussen auf dem Stehtisch hinterlassen, für die Leute zum Mitnehmen. Vor 20 Jahren hat Songül im Schneeglöckchen ihre Bäckermeisterinnenausbildung absolviert und dann den Laden übernommen. Ihre Wohnung liegt direkt über dem Geschäft. Sie bäckt riesige Kartoffeldinkelbrötchen und Brownies, die so süss sind, dass man eine Zuckerschocklatenz für ihren Verspeis einplanen muss. Der Knöterichpinkler von eben bleibt so wie ich vor den aussortierten Brötchen stehen und sagt: ich dachte, vielleicht nehme ich die mit zum Enten Füttern.

Ich antworte: mach das ruhig, ich habe genug Brot zu Hause.

Er deutet auf den Kiosk neben der Bäckerei und fragt, ob ich etwas trinken möchte. Ich spüre einen kurzen Widerstand und sage dann: okay, eine Limo. Der Baumpinkler heisst Hakan und sagt dem Kioskmann Bescheid, dass ich mir ein Getränk hole. Ich nehme mir eine Rhabarber Fritz und setze mich zu Hakan draussen auf die Bänke, auf denen immer Sitzkissen bereit liegen. Eine Handvoll Leute, die das Biertrinken zu ihrer Hauptbeschäftigung gemacht haben, versammeln sich hier normalerweise, wenn nicht gerade Sonntag ist, wie heute. Hakan stellt mich seinem Bruder und Onkel vor, die auch da sitzen und Bier trinken. Sie machen gerade eine Pause vom Renovieren. Hakans Bruder hat 78 Strafanzeigen, erzählt Hakan, und wollte es einmal mit einer selbst gebauten Bombe seinem Nachbarn so richtig zeigen. Hakans Bruder trägt einen Hipsterbart und wohnt an der Landsberger Allee. Hakan betreibt einen Friseursalon auf dem Britzer Damm und findet, dass er bei meiner Haarfarbe noch einiges verbessern könnte.

Er sagt: Sorry übrigens wegen vorhin, ich musste einfach echt dringend pinkeln.

Ich sage, dass das An-Bäume-Pinkeln aus ökologischer und queerfeministischer Ansicht wie der meinen für alle Hunde, Katzen und Menschen in die Ästhetik der Stadtarchitektur miteinbezogen werden sollte und das einem sehr wahrscheinlichen Zukunftsszenrio, in dem wir künstliche Waldstädte in dystopischen Dürregebieten, wie Nordeuropa es bald sein werde, anlegen und düngen werden, ein wenig entgegen käme.

Hakan lacht verlegen und verwegen zugleich und sagt, er hat ein Schlauchboot am Kanal und geht später noch die Enten dort füttern. Sein Onkel wohnt seit 40 Jahren ganz in der Nähe und sagt: die Strasse war schon immer so wie jetzt. Hakans Bruder fragt, ob ich einen Freund habe und ich sage, dass es Grund zur Annahme gäbe, dass einige der Apostel weiblich oder zumindest nicht cis-männlich gewesen seien. Hakans Bruder sagt, er habe derzeit die Schnauze voll von Beziehungen, aber vielleicht könne man sich ja in der Mitte treffen. Hakan fragt, ob ich noch mit in eine Shishalounge komme und ich antworte: heute eher nicht mehr, aber danke für die Limo.